Retraumatisierung von Geflüchteten – Rassistische Polizeigewalt gegen unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Neuss am 08.03.2024
Unbegleitete minderjährige Geflüchtete haben im Kinder- und Jugendschutz eine besondere Schutzstellung. Viele von ihnen haben traumatisierende Fluchterfahrungen. In Deutschland werden unbegleitete minderjährige Geflüchtete nach einem Clearingverfahren vom Jugendamt in »Obhut« genommen. Danach werden sie in Wohngruppen untergebracht. Dabei kümmern sich Erzieher*innen und Sozialarbeiter*innen um ihre Bedürfnisse und die Wahrnehmung ihrer Rechte. Einen sicheren Raum zu schaffen, ist der Fokus für die schutzbedürftigen Kinder und Jugendlichen. Diesen sicheren Raum haben sie vorher nicht gehabt.
Polizeibehörden verletzen immer wieder diese sicheren Räume für Jugendliche. Wir machen hier einen solchen Fall im März 2024 in Neuss öffentlich:
Am Morgen des 8. März 2024 bereiteten sich die Jugendlichen der Wohngruppe in Neuss auf die Schule vor. Plötzlich drangen sechs Polizeibeamt*innen in die Jugendschutzeinrichtung ein. Die Jugendlichen beschreiben sie als „Drei Männer mit Sturmhaube, kugelsicherer Weste und drei Männer in Zivilkleidung, alle mit sichtlich erkennbarer, teils gezogener Dienstwaffe und Handschellen“.
Die Beamt*innen verschafften sich unbefugt Zugang zu der Jugendhilfeeirichtung, ohne Absprache mit dem Träger und ohne Vorwarnung. Ein/e Mitarbeiter*in aus der Einrichtung beschreibt das Vorgehen aus der Perspektive der Jugendlichen, wie folgt: „Es wurde kein Durchsuchungsbefehl gezeigt und die Jugendlichen wurden mit gezogener Waffe genötigt, der Polizei die Tür zur Wohngruppe zu öffnen. Als sie Zugang zur Wohngruppe hatten, schrien die Beamten: „Legt euch auf den Boden“. Der Jugendliche, der die Tür geöffnet hatte, wurde gewaltsam zu Boden geworfen und mit Handschellen gefesselt.“
Die Polizei hielt sich alleine in der Wohngruppe auf, ohne Betreuer*in oder rechtlichen Beistand. Die Jugendlichen wurden nicht über ihre Rechte oder das Vorgehen aufgeklärt. Es wurden kein/e Dolmetscher*innen hinzugezogen. Die Polizist*innen gingen wahllos und uninformiert vor. Sie fragten die angetroffenen Jugendlichen ob sie hier wohnten, klopften an Zimmertüren und fragten, ob wer Deutsch spreche, verirrten sich in einer Etage. Die Beamt*innen standen mit gezogener Waffe vor dem Zimmer eines Jugendlichen, gaben sich Befehle und drangen ein. Der Jugendliche wurde von den Beamt*innen in seinem Zimmer überrascht und mit Handschellen gefesselt. Der Jugendliche wollte Hilfe und Kontaktpersonen anrufen und äußerte zu den Polizist*innen: „Soll ich die Bereitschaft anrufen und den Betreuer?“ Dies wurde ihm von den Beamt*innen mit den Worten „Nein, brauchst du nicht“ verwehrt.
Die Polizist*innen zeigten den Jugendlichen ein Foto, auf dem eine migrantisierte Person zu sehen ist. Als keiner der Jugendlichen diese erkennt, wird ihnen nicht geglaubt. Die Polizist*innen wurden agressiver: „Lüg mich nicht an, wenn du den kennst, sag es einfach“. Anschließend ließen sich die Beamt*innen von zwei Jugendlichen die Kellerräume und die Küche zeigen, zwei der Polizist*innen sammelten Spuren, wie ein Mitarbeitender aus der Einrichtung rekonstruiert. Bevor sie schließlich die Einrichtung verlassen, entschuldigten sich die Polizist*innen und sagten, dass sie hier falsch seien.
Als später am Vormittag Betreuer*innen eintreffen, sind einige Jugendlichen stark am Zittern und wirken apathisch. Die Polizist*innen erkannten wohl im weiteren Tagesverlauf, dass sie „etwas“ falsch gemacht hatten. Ein Beamter des LKA „entschuldigte“ sich später telefonisch für das Vorgehen in der Einrichtung, ignorierte jedoch Nachfragen, spielte den Einsatz herunter und sagte, dass „alles nicht so schlimm gewesen sei“, und die Polizist*innen vor Ort hätten sich doch „entschuldigt.“
In der Einrichtung selber wurde auch versucht, den Vorfall herunterzuspielen. Kritische Nachfragen wurden unterbunden. Es wurde ein Verbot ausgesprochen, mit anderen Organisationen oder der Presse darüber zu reden. Die Mitarbeitenden wurden gebrieft, anzugeben, dass sie nichts Genaues wüssten oder dass es nicht ihre Wohngruppe betreffe. Die Mitarbeitenden sollten auch nicht mit einer neutralen Opferschutzorganisation sprechen, am besten solle direkt nur mit der Vorgesetzten gesprochen werden.
Polizeigewalt muss vollständig aufgeklärt werden, statt sie als Normalzustand zu akzeptieren. Im Fall der Wohngruppe geht es explizit um Grund- und Menschenrechte.
Bo vom Solidaritätskreis Justice4Mouhamed äußert sich kritisch: „Wie kann es sein, dass eine Gruppe sichtlich bewaffneter und aggressiver Polizisten alleine in eine Wohngruppe für minderjährige Geflüchtete geht?“ Der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed positioniert sich gegen das Einzelfallframing, was in solchen Fällen von Polizeigewalt von der Polizei strategisch genutzt wird: „Genau so, wie es in Dortmund im Fall von Mouhamed war, ist die Parallele zu Neuss erschreckend. Die Jugendlichen sind wie Mouhamed traumatisiert und minderjährig, wie kann es sein, dass die Polizei hier nicht vorher abwägt, was sie im Einsatz macht?“
„Eine Demokratie bemisst sich immer daran, wie sie mit besonders Schutzbedürftigen umgeht und inwiefern sie Minderheitenrechte ernst nimmt. Unbegleitete minderjährige Geflüchtete benötigen ganz besonderen Schutz, leider gibt es insbesondere in NRW aber viele Beispiele, wo dieses Schutzbedürfnis behördlich mit Füßen getreten wird. Dass eine gezogene Waffe und polizeiliche Gewalt gegenüber Kindern die Mittel der Wahl sind und dann auch noch so lapidar relativiert werden, macht schlicht fassungslos.“, sagt Michèle Winkler vom Komitee für Grundrechte und Demokratie.
Insgesamt sind viele Fragen offen. Wir wollen es nicht hinnehmen, dass die Rechte von minderjährigen Geflüchteten derartig mit Füßen getreten werden. Wir wollen es nicht akzeptieren, dass Jugendliche ohne Dolmetscher*in, Betreuer*innen und pädagogisches Personal allein gelassen werden mit derartiger Polizeigewalt!
Wir fordern gemeinsam Aufklärung über den massiven Eingriff in die Menschenrechte von minderjährigen Geflüchteten und diese unverhältnismäßige Polizeigewalt!
Die Jugendlichen, Mitarbeitenden und solidarischen Gruppen wollen Antworten auf folgende Fragen von der Polizei, dem Träger der Einrichtung und der Stadt Neuss.
- Warum werden den Mitarbeitenden der Einrichtung keine weiteren Informationen zu dem Einsatz mitgeteilt?
- Wie wird der Einsatz aufgeklärt und wie kann dieser Einsatz vom Gericht genehmigt werden, wenn der gesuchte Mensch sich noch nie in der Jugendhilfeeinrichtung aufgehalten hat?
- Wie kann es dazu kommen, dass ein gewaltvoller Polizeieinsatz in einer Wohngruppe mit (Kriegs-)traumatisierten Jugendlichen stattfindet? Wie kann ein/e Richter*in das genehmigen?
- Weshalb wurden neben dem Durchsuchungsbefehl, der für die 1. Etage ausgestellt wurde, weitere Räume mit „Gefahr im Vollzug“ durchsucht? Warum mussten die Jugendlichen ohne Betreuer den Polizisten die Räume zeigen?
- Wieso werden Menschen während des Einsatzes ihre Grundrechte verwehrt (Betreuer*in anwesend, Telefonat)?
- Wieso müssen Jugendliche mit gezogener Waffe bedroht werden und mit Handschellen gefesselt werden?
- Weshalb unterdrückt der Träger die Aufarbeitung und hat nicht das Interesse, auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter*innen und Jugendlichen einzugehen?
- Weshalb dürfen bewaffnete, maskierte Polizisten alleine einen Einsatz in einer Jugendwohngruppe für minderjährige Geflüchtete durchführen, ohne Dolmetscher*in oder Betreuer*in?
- Wie kann es sein, dass die Jugendlichen rassistisch diskriminiert werden und unter Generalverdacht gestellt werden? Wie kommt es dazu, dass hier institutionelles Racial Profiling betrieben wird?
- Inwiefern wirkt sich die Polizeigewalt auf die Jugendlichen aus und welche Folgen hat der Einsatz für sie?
Statement von Dr. Larissa Nägler:
Als Psychologin kritisiere ich insbesondere die Unverhältnismäßigkeit des Polizeieinsatzes: Strafverfolgung darf nicht billigend die Unversehrtheit von traumatisierten Minderjährigen in Kauf nehmen- insbesondere dann nicht wenn diese bereits von staatlicher Seit aus als besonders vulnerabel bewertet wurden. Dies ist jedoch, in meinen Augen, bei dem Einsatz in der Jugendhilfeeinrichtung in Neuss geschehen.
Die besondere Vulnerabilität minderjähriger Geflüchteter erklärt sich nicht nur aus ihrer körperlichen Unterlegenheit, sondern vor allem daraus, dass Kinder und Jugendliche von einem starken Bindungs- und Schutzbedürfnis gegenüber erwachsenen Personen geleitet sind. Fehlen diese fürsorglichen Bezugspersonen löst dies in den meisten Fällen große Hilflosigkeit und ein Gefühl von schwerer Deprivation aus – auch ohne physische Gewalterlebnisse. Auf emotionaler Ebene fehlt die schützende Bindung, auf sozialer Ebene ein gutes Vorbild an dem Kinder und Jugendliche lernen können. Dies trifft auf viele geflüchtete Kinder und Jugendliche, die sich aufgrund prekärster Verhältnisse in ihren Herkunftsländern auf die Flucht begeben, zu.
Erleben sie dann zusätzlich schwere Gewalt und mitunter Folter durch Schlepper oder Grenzbeamt*innen, ist eine gesunde Entwicklung in den meisten Fällen erschwert, wenn nicht gar unterbrochen. Ein Großteil der Jugendlichen, die auf diese Weise traumatisiert sind, passen sich dann ihrer traumatischen Umwelt an: Manche haben Schwierigkeiten zu vertrauen und ziehen sich aus sozialen Kontakten zurück; Viele sind misstrauisch gegenüber Erwachsenen, die den Täter*innen ähneln und kämpfen mit den traumatischen Erinnerungen in Form von Alpträumen oder Erinnerungen, die sie in Zeit und Ort der traumatischen Gewalt zurückversetzen. Bleiben diese Beschwerden über einen längeren Zeitraum unbehandelt, kommt es häufig zu einer Verschlimmerung. Aus meiner Beratungserfahrung weiss ich, dass gerade männliche Jugendliche die geflüchtet sind, zusätzlich durch Erfahrungen von sexuellem Missbrauch im Rahmen ihrer Flucht belastet sind. Verständlicherweise reagieren sie mit einer besonderen Belastung als Folge von Polizeigewalt, die immer auch mit erzwungenem Körperkontakt (z. B., Gewaltvolles Handschellen anlegen oder Niederstrecken, Drogendurchsuchungen am Körper etc.) einhergeht.
Voraussetzung für jede traumasensible Umgebung ist somit ein sicherer, gewaltfreier Ort an dem traumatisierte Jugendliche lernen können wieder zu vertrauen, Bindungen einzugehen und sich altersgerecht entfalten. Dies beinhaltet insbesondere Erwachsene, die die Jugendlichen in ihrem Erleben ernst nehmen und vor erneuter Gewalt schützen (können). Die Jugendhilfeeinrichtung in Neuss und ihre Mitarbeiter*innen versuchten genau so einen Ort sicherzustellen und fanden sich genauso überwältigt und ungläubig wieder, wie ihre Schutzbefohlenen. Umgekehrt gilt: Eine Umgebung in der Erwachsene nicht vor Gewalt schützen können und in der die Polizei als institutionalisierte Hilfestruktur angreift, bestätigt viele Jugendliche in dem Glauben, dass die Welt ein „unsicherer Ort“ ist. Bei einigen der betroffenen Jugendlichen in Neuss trug dies zur Verschlimmerung akuter Traumafolgebeschwerden bei.
Kurzum: Kinder und Jugendliche sind auf die Fürsorge und den realen Schutz von Erwachsenen angewiesen – dies gilt auch und insbesondere für geflüchtete Jugendliche. Erfahren sie keine altersgerechte Fürsorge oder erleben schwere Gewalt kann das die kognitive sowie emotionale Entwicklung erheblich und langfristig beeinträchtigen. Es erscheint mir fast banal, dies zu erklären und doch erlebe ich in der Beratung von migrantisierten Jugendlichen, die Polizeigewalt erleben, immer wieder wie ihnen diese Schutzbedürftigkeit wie selbstverständlich abgesprochen wird.
Vor diesem Hintergrund ist es mehr als fahrlässig, wenn Polizeibeamt*innen im Rahmen einer Fahndung Gewalt in Jugendhilfeeinrichtungen anwenden. Für mich bleibt es fraglich, ob und wie dringlich die Fahndung gewesen sein muss, sodass nicht auf die trauma-geschulten Mitarbeiter*innen der Einrichtung gewartet werden konnte. Aus Beratungen mit migrantisierten Betroffenen die Polizei-, SEK-, LKA- Einsätzen erlebt haben, wird zudem immer wieder von Verwechslung berichtet. Hierbei wird deutlich: Für die verantwortlichen Beamt*innen ist und bleibt dies ein Einsatz von vielen, eine ernsthafte Entschuldigung bleibt aus und Betroffene werden ohne ärztliche Hilfe zurückgelassen. Betroffene von Polizeigewalt, ihre Angehörigen und Communities hingegen ändern nicht nur ihre Einstellung gegenüber Polizeibeamt*innen, sondern mitunter ihr gesamtes Leben und sind häufig für mehrere Monate bis Jahre mit der Bewältigung des Erlebten beschäftigt.
Ich finde: Spätestens seit dem Tod von Mouhamed Lamine Dramé in Dortmund sollte eine Professionalisierung innerhalb der polizeilichen Ausbildung hinsichtlich dem Umgang mit psychisch belasteten Jugendlichen, die aus Schutzgründen nach Deutschland flüchteten, stattgefunden haben. Außerdem: Die Frage danach warum Gewaltanwendungen bei nicht-weißen Kindern und Jugendlichen häufig als einzige Einsatzstrategie erkannt wird, sollte dringend auch anhand der Folgen für Individuen und Gesellschaft diskutiert werden: Ist es noch verhältnismäßig wenn Kinder und Jugendliche erneut traumatisiert werden oder Einsätze tödlich enden?
Statement von Thomas Klein, Betreuer von zwei der Betroffenen Jugendlichen:
Als Vormund zweier betroffener Minderjähriger bin ich einerseits darüber entsetzt, dass meine Jugendlichen dieser Situation ausgeliefert wurden, ohne dass Sorgeberechtigte, Betreuer*innen oder sonstigen Personen, die ihnen hätten beistehen können, informiert wurden. Spätestens als einer der Betroffenen klar zum Ausdruck brachte, minderjährig zu sein und seine Betreuer anrufen zu wollen, wäre eine andere Reaktion seitens des Staatsorgans zwingend erforderlich gewesen.
Auf der anderen Seite ärgert mich, dass es im Nachgang von Seiten des LKAs heruntergespielt wird, man habe halt nicht alles gewusst. Eine offizielle Entschuldigung habe ich nicht vernommen und ebenso wenig die Bereitschaft, den Vorgang von Seiten des LKA adäquat aufzuarbeiten.